Mit grossen, unsicheren Augen drängt sich die achtjährige Noé ganz dicht an ihre Mutter, als sie gemeinsam in das Frauenhaus eintreten. Die lange Reise, die Angst und die ungewohnte Umgebung lassen sie still und zurückhaltend erscheinen. Sie lässt die Mutter nicht aus den Augen, sucht immer wieder deren Nähe und beobachtet misstrauisch die neue Umgebung. Die fremden Gesichter, die anderen Kinder, die vielen Eindrücke – all das scheint für sie herausfordernd und wohl auch ein wenig beunruhigend zu sein.
In den ersten Tagen spricht Noé kaum. Sie gibt auf Fragen knappe Antworten und wirkt in sich gekehrt, aber dennoch präsent. Noé kann sich von ihrer Mutter trennen und an den Aktivitäten mit den anderen Kindern teilnehmen, zeigt aber deutlich, wie froh sie ist, wenn sie zu ihrer Mutter zurückkehren kann. Die Begrüssung nach dem Kinderprogramm ist innig und wir nehmen wahr, wie Noé ihre Arme fest um ihre Mama schlingt.
Beim gemeinsamen Essen sitzt sie ruhig da, isst nur wenig und scheint stets auf der Hut zu sein. Die Fachberaterinnen im Frauenhaus unterstützen Noé professionell und begegnen ihr mit der nötigen Geduld und viel Verständnis. Sie geben ihr Zeit, erkennen ihre Bedürfnisse und laden Noé immer wieder behutsam dazu ein, die Spielmöglichkeiten zu entdecken.
Nach und nach beginnt sich etwas zu verändern. Zunächst nur kleine Schritte: Ein scheuer Blickkontakt, ein zaghaftes Lächeln und auch mal ein spontaner Lacher. Dann kommen immer mehr Momente des Vertrauens – Noé nimmt einen Stift und malt ein Bild, während eine der Kinderfachfrauen neben ihr sitzt. Sie beginnt längere Antworten zu geben und äussert ihre Gefühle. Die gewonnene Sicherheit bemerken wir auch im Alltag: Sie erkundet neue Spielbereiche draussen, beobachtet die anderen Kinder neugierig und traut sich schließlich, mit ihnen in Kontakt zu treten und zu spielen.
Ein besonderer Moment ist das erste bewusste laute Lachen. Beim Toben mit einem älteren Kind schlüpft sie in Rollenspiele und kann für einen Augenblick die zurückhaltende und teilweise ängstliche Art ablegen. Es ist ein Lachen voller Leben, das zeigt, dass Noé beginnt, sich wohlzufühlen. Die Kinderfachfrauen bemerken die Fortschritte: Die Sprache wird lebendiger, die Bewegungen selbstbewusster, sie sucht von sich aus Blickkontakt auf oder erwidert diesen.
Schritt für Schritt blüht Noé auf. Sie entwickelt Vertrauen zu den Betreuerinnen, erzählt kleine Geschichten und sucht ihre Nähe. Sie nimmt sehr aktiv an Angeboten teil, malt, singt und spielt ausgelassen mit anderen Kindern. Manchmal gibt es noch Momente der Unsicherheit, aber sie weiss nun: Hier ist ein sicherer Ort, an dem sie angenommen wird, so wie sie ist.
Mit der Zeit wird deutlich, wie sehr Noé in ihrer Entwicklung voranschreitet. Sie lernt ihre Bedürfnisse auszudrücken, Beziehungen zu knüpfen und sich selbst zu entfalten. Der anfangs fremde, unsichere Ort, ist nun zu einem Raum geworden, in dem sie wachsen, lernen und sich geborgen fühlen kann.
Das Frauenhaus ist für Noé und ihre Mutter mehr als nur eine Zuflucht – es ist ein Ort des Schutzes und des Neuanfangs.
Als der Austritt näher rückt, bedeutet dies für Noé, erneut loszulassen. Ich bin zuversichtlich, dass ihr dies mit den im Frauenhaus gewonnenen Stärken und dem mit positiven Erfahrungen gefüllten Rucksack gelingen wird – einem Rucksack, der nicht nur Erinnerungen, sondern auch Stärke und Glück enthält. Noé ist ermutigt worden ihn neu zu packen – und schlägt damit ein Kapitel voller Abenteuer, Freundschaften und unvergesslicher Momente auf.
Manuela Hunsperger
Fachperson Kinderbetreuung