Was tut mir überhaupt gut?

Es ist ein regnerischer Februartag, an dem ich mich dem Aktenstudium widme und mich lebhaft an eine junge Frau erinnere, die ich im letzten Jahr begleiten durfte. 

Wie erzählt man die Geschichte eines Mädchens, das häusliche und sexualisierte Gewalt durch seinen Vater erlebt hat? Vielleicht einfach so, wie ich mich erinnere.

Das erste Mal kam sie zu mir, als sie gerade umgezogen war. Sie sei sehr zufrieden und habe bereits ein paar Freundinnen gefunden. Sie fühle sich sicherer, seitdem sie im Frauenhaus Unterschlupf gefunden habe und von dort aus einen neuen Wohnort suchen konnte. 

Ihr Vater habe sie am alten Wohnort noch in der Schule aufgesucht – sie und ihr Bruder hätten Angst gehabt. In der Zeit, als der Vater sexuelle Übergriffe ausübte, habe er oft zu ihr gesagt, er würde sie töten, wenn sie jemandem davon erzähle. Das habe er auch zu ihrem kleinen Bruder gesagt. Sie sei sehr froh, dass der Vater nicht wisse, wo sie heute wohne. Manchmal träume sie davon, dass sie doch irgendwie getötet werde.

Selbstverständlich musste zuerst die äussere Sicherheit der jungen Frau gewährleistet sein, bevor sie damit beginnen konnte, der Polizistin zu erzählen, was geschehen war. Im Kontakt mit ihr standen viele für sie wichtige Themen im Raum, die sie jedoch nicht aktiv ansprach. Diese Gedanken begleiteten sie ständig und belasteten sie emotional.

Weil ihr eingeredet worden war, dass das, was sie mit dem Vater tun musste, normal sei und sie es niemandem erzählen dürfe, hatte sie ständig Angst, etwas zu tun oder zu sagen, was verboten war. Sie hielt viel zurück und brauchte Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Oftmals bekam ich den Eindruck, dass sie sich selbst nicht wirklich traute.

Mit der Zeit berichtete Sie, dass sie sich selbst dafür verurteile, sich immer wieder in Lügen zu verstricken. Sie realisierte, dass sie Verhaltensweisen ihres Vaters angenommen hatte, die ihre engsten Bezugspersonen verabscheuten. So fühlte sie sich zeitweise auch selbst abscheulich und nicht liebenswert. Es beschäftigte sie die Frage, wie sie damit klarkommen konnte, dass sie sich teilweise so benahm, wie sie es vom Vater kannte. Solche Gedanken belasteten sie stark.

Es gab so viele Menschen um sie herum, die zu wissen meinten, was gut für sie sei. Es überforderte sie, sich selbst zu fragen: Was ist wirklich gut für mich? 

In der therapeutischen Begleitung setzte ich diverse Schwerpunkte: die Arbeit mit dem Mädchen selbst, ihr Verhalten und ihre Bedürfnisse im Kontext ihrer Herkunftsgeschichte einzuordnen und sich diesbezüglich als «normal» zu sehen. Die Stärkung des Umfelds, damit möglichst konstruktiv und liebevoll-fürsorglich auf sie reagiert werden konnte. Und schliesslich auch, in der therapeutischen Beziehung zu mir eine Konstanz herzustellen, die ihr versicherte, dass ich da bin – mit Hoffnung und Glaube daran, dass sie sich gut entwickeln wird und herausfindet, welche Interaktionen sich für sie richtig und stimmig anfühlen.

Gemeinsam nahmen wir uns Zeit und schöpften Kraft, um herauszufinden, wann sie in ihrem Leben Glück empfindet und wie sie sein kann, damit sie sich mit sich selbst wohlfühlt.

Und auch, was sie tun kann, wenn ihre alten Verhaltensmuster durchbrechen. Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die nicht in ein paar wenigen Sitzungen erledigt war, aber mich stets aufs Neue motivierte.

So nahm ich im Februar abends meinen Velohelm, meine Regenbekleidung und schwang mich – gut geschützt – aufs Velo mit Dankbarkeit über das, was ich «meine Arbeit» nennen darf.

 

Noemi Friedli
Fachberaterin Opferhilfe │ Kinder- und Jugendtherapeutin

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